The Hoarder EP2- Brief, Song, Erinnerung

Alle haben frei. Das Team und sie marschieren den Weg zurück und gehen in den verdienten Feierabend vorzeitig. Am nächsten Tag und, das hat sie sich bereits in der Nacht ausgedacht, bewaffnet durch die Inspiration ihrer Träume. Was das Team in der freien Zeit unternommen hat, sie weiß es nicht genau. Wahrscheinlich hat sich der größte Teil derer, im Geiste verschworenen, unsinnig volllaufen lassen. Und das, ohne einen Energizer, der so wohlwollend aufputscht und Flügel verleihen soll. Jedenfalls waren alle wieder bereit die „Angelegenheit“ zu klären und auf jeden Fall hat TINA IHR Schiessgewehr, eigentlich für Kinder am Strand zum Wasserspeien gedacht, mitgebracht. Eine nicht ganz reale Aufrüstung, aber in der Gedankenwelt recht effektiv. Die Tür zum Haus steht offen, das-ist schon mal sehr gut, denkt sie sich, es kann also weitergehen mit dem herausholen und wegwerfen, entsorgen der Sorgen. Auf der Suche nach dem Bewohner schlängelt Tina auf dem am Vortag freigeräumten Weg durchs Haus ins Wohnzimmer, da, wo sie ihn gestern so versunken beobachtet hatte. Heute fand sie ihn mitten im Zimmer, etwas zögerlich auf der Gitarre zupfend und mit einer Bariton Charakterstimme einen Song hauchend, wieder. Bobo ist von seiner Gestalt her sehr dünn und relativ groß, hat einen vollen weißen Bart mit einem langen geflochtenen Zopf. Seinen Augen sind wässrig blau und an den Rändern der Pupille unscharf gräulich. Ihren Blick auf die rund um ihn liegenden Briefe fixierend, konnte sie sich schon vorstellen, was passiert ist. Der Geplagte hat sich auf dem Teppich, der mit großzügiger Handschrift bemalten Briefe, in die Vergangenheit katapultiert, Jetzt ist er als kleiner Muck unterwegs. Einen dieser herumliegenden Briefe liest sie nur aus Neugier, aus der sie sich einfach nicht entfesseln konnte, die sich einfach nicht abschütteln lies.

Mein liebster Freund in Paris! (Auch anderswo, überall)

Heute bin ich wieder nachhause gekommen und es hat mir gut getan, Mainz solange nicht gesehen zu haben. Nur deine Briefe habe ich vermisst, jetzt habe ich gleich drei auf einmal! Wieso warst du nur so deprimiert, an dem Tag als du abfuhrst, ich kann es mir wirklich nur so erklären, dass du tatsächlich viel zu viele Idealbilder im Kopf hast. Ich bewundere dich und wundere mich zugleich, dass dich die Realität in deinem zwanzigjährigen Leben noch nicht so geschunden hat, um dir deine Träume zu nehmen. Seit du hier warst, habe ich mich gefangen, du hast mir sehr geholfen, du hast mir wahrhaft viel geholfen und kannst aufhören, dich um mich zu sorgen. Ich sage das nicht, um dich zu beruhigen, es ist wahr, und ich habe es dir hier schon gesagt, du weißt, ich mache im Allgemeinen nicht viele Worte um Gefühle, aber wenn ich meinen Gefühlen dann Ausdruck verleihe, dann ist das die volle Wahrheit und es bedarf keiner weiteren Ausführungen. Ich will dir noch viel, viel schreiben, aber irgendwie kann ich nicht, weil in einer halben Stunde Gretel hier am Bahnhof steht und mein Herz klopft schon bis zum Halse, meine Knie sind weich, und ich kann keinen rechten oder linken Gedanken mehr fassen. Soweit ich kann, schreibe ich dir über Weiteres- denken tue ich sowieso dauernd an dich, dann an Gretel und wieder an dich. Wann soll ich eigentlich noch arbeiten? Sei mir nicht böse, dass ich nicht mehr schreiben kann,

bis bald Deine S.

Während Tina liest und gleichzeitig mitfühlend interpretiert, hört sie im Hintergrund den Bewohner auf der Gitarre spielen. Klingt gar nicht übel, auf das in ihrem Kopf nachhallende Echo sich legend. In Englisch und mit rauchiger Stimme ein wenig like Elvas Castello, löst sie ihre Aufmerksamkeit von dem Gelesenen und hört:

He lost his situation and hanging upside down, got stuck behind her back. His brain’s like scrambled eggs, his dick the deadest place. She’s no one sick and tired. It’s her who made it over the fence. She doesn’t have to overdo this nonsense. It’s her who got a new ride on the living side -she lost the ownerless shadow got a new situation it’s her chance.

obscure dark
camera obscura

Der Refrain ändert die Stimmung des Songs und nimmt an Tempo auf. Synkopen und kleine rhythmische Schläge auf die Gitarre unterstreichen den gut zu verstehenden Text Überrascht und sichtlich beeindruckt von der ungewöhnlich subtilen Darstellung der Situation, in die der kleine Muck auf seinem imaginären Teppich aus handbeschrieben Blättern gelandet ist, hört sie weiter zu.

He can’t find his way back to the other side, gone crazy got stuck behind her back. He’s in a darkroom afraid without connection, sees the illuminating reflection, won back some orientation. He’s inside a camera obscura darkness falls. He knows he’s a far away eye of the beholder, takes a peek upside down and the wrong way around. He needs to stay away, live on the other side. He can’t find his way back to the other side, gone crazy got stuck behind her back :I

Ob Sie unbewusst reagierte, oder einfach die Neugier auf mehr nicht stillen konnte, ist schwer zu sagen. Jedenfalls hat sie schon den nächsten Brief in den Fingern und entblättert, die mit großer und verschnörkelter Schrift beschriebenen Blätter

Mein lieber Freund,

uff! Gerade bin ich von Marburg gekommen, während ich am Samstag noch in Mainz weilte, am Dienstag in Amsterdam, wo steht mir der Kopf? Blöde Frage, in Köln und in Marburg natürlich, weil hier die beiden liebsten Menschen leben, die ich habe. Nicht eifersüchtig sein, du bist der Liebste das ändert nichts und niemand.

Ein Schatz bist du, mit deinem schönen Briefpapier, ich wurde regelrecht neidisch, übrigens auf die beiden Frauen, die dich umwerben. Warum müssen es auch noch zwei sein? Schön und gut, dass du an die Frauen glaubst, kannst du sie denn eigentlich noch ausnutzen? Langsam denke ich, das ist das einzige was ein Mann mit einer Frau tun kann, sie ausnutzen, nicht nur ihre Weiblichkeit, sondern  Erstrecht und gerade ihre Hilflosigkeit, jawohl. Wie die Kinder, sage ich dir, sind wir Frauen.

Was ich so sehr an dir mag ist, dass du dich als Mann auch mal schwach fühlen kannst und das offen zugibst, ohne vor einer Bloßstellung Angst zu haben-  das ist gleichwohl auch Stärke. Aber kannst du dir vorstellen, dass Gretel, meine göttliche Gretel, sich nicht entscheiden kann, nicht weil sie egoistisch ist und sich lieber zweier Frauen versichert, nein sie ist tatsächlich völlig hilflos, kann nicht. Weder aus noch ein weiß sie, und hofft auf Zeit und Raum. Ich habe ihr daraufhin dargelegt, dass sie sich insofern auf die Anderen verlässt, auf Entscheidungen von mir oder Lola, was für sie noch trauriger ist als für uns, da sie sich Fremdbestimmen lässt. Sie weiß das genau, aber als ich es gesagt habe, war sie eingeschnappt, d.h. eher verletzt und zwar Stunden wie ein Fisch. Die ganze Nacht Psychoterror in Gesprächen, die sich wie ein Karussell drehten. Ich wollte sie nicht zu einer Entscheidung drängen, ihr eher helfen, aber als ich ihr sagte, was sie schon längst wusste und ich mich ihr quasi offenbart habe, eine Sache, die mir sehr schwer fällt gegenüber den Mädels hat sie sich anscheinend bloßgestellt und gedrängt gefühlt, als sie als Antwort mir einige Sätze gegengeschleuderte, die mit einer eisigen Kälte das Ende unserer Beziehung weniger in Worte, als in Beleidigungen gekleidet haben. Nur ein paar Sätze, dann Stille. Ich dachte nur an, du selbst hast es dir verscherzt, obgleich ich nicht wusste, wodurch eigentlich wie ein Stein habe ich da gelegen und sie, abgewendet Gesicht Minuten lang, eher stundenlang so schien es mir, ein fühlloses daliegen nur die Tränen habe ich gespürt, wie sie mir übers Gesicht liefen. Ich liebe dich, ich liebe dich ich brauche dich doch. Wie im Traum habe ich diese Worte dankbar angenommen und ich habe sie geglaubt, was hast du anderes erwartet, aber ein Stich ist geblieben. Ich wage kaum zu schreiben, dass ich im tiefsten Dunkel meines Hinterkopfes eines Tages mehr Ahnung habe, dass diese Worte die so leicht einen Schlussstrich unter unzählige Begegnungen setzten, mir gelten werden nicht Lola. Nein, sie liebt diese Frau sehr und ich glaube es ganz gewiss, dass es für sie möglich wäre, sich von ihr zu trennen, ohne dass ich sie zwingen müsste -das Allerletzte, Deine Liebste S

Nachdenklich geworden legt sie den Brief wieder an die Stelle, wo sie ihn aufgehoben hat. Mit veränderter Sicht wird ihr klar, dass ihr bescheidenes, aber kompakt psychologisches Talent unwillkommene Situationen schnell und sicher zu meistern, einsetzen muss. Soll er doch  Klampfen und singen. Ich werde dieses Bild, mit strengem Gedächtnis, im See einer hartnäckigen Hoffnung, entschlüsseln. Dort, wo er auf die andere Seite hinübergeschritten ist, wird sie ihm nicht folgen, denn die Zeit und der Raum, ist nicht der Ihre. Intuitiv legt sie Ihren Kopf etwas schiefer in den Nacken und versucht die verworrenen Enden des Gelesenen und gehörten in ihrem Kopf zu entwirren. Brandwunden aus vergangener Zeit. Ein Mann liebt eine Frau, die in eine Frau verliebt ist, die eine andere Frau liebt. Einfacher wird es nicht, oh je, sinniert Tina. Ihr gefielen diese Briefe nicht, besonders nicht im unmittelbaren Vergleich mit Bobo, der am anderen Ende des Raums ihr Interesse erregt. Ein starker Arm rempelt Tina zur Seite. Die Angelegenheit muss bereinigt werden. Es wird entsorgt, keine Fragen mehr, die systemische Analyse wird warten müssen. Wieder mit festen Füssen im Durcheinander der Dinge gibt sie Anweisungen, was als nächstes getan werden muss. „Das dort in der Ecke, was ist das eigentlich? Spanplatten, das sollte wohl als Brennholz dienen, weg damit. Am Besten ihr lasst den Geplagten unbeeindruckt, sich seiner selbst überlassend, links liegen“.

Warte mal, Tina ist am Überlegen, das verrät sie durch ihre Gestik. Sie legt ihren linken Arm, die Brüste stützend auf die andere Seite, stützt mit der Hand den Ellbogen des rechten Arms, greift sich an’s Kinn, das rechte Bein nach vorne gestellt, aber so, dass der rechte Fuß, wie bei einer Ballerina nach rechts zeigt, und lehnt sich ein wenig zurück. Die Nacht hatte sich bereits in voller Größe um das Haus gelegt, die Sterne waren ausnahmsweise gut zu sehen, begannen etwas zitternd ihre Bahnen am Himmel zu ziehen. Das Team hat gemeinsam entschlossen, alles, was annähernd nach Holz aussah in einem Lagerfeuer zu verbrennen. Auf der einen Seite einige der Team Mitglieder mit einem Bier in der Hand. Gegenüber stehend Tina mit dem allerstärksten Burschen, Tony. Arm in Arm stieren sie in die kringeligen Flammen, mit fiebrig rötlich glühenden Gesichtern, wie bei Feuerwehrleuten, die die Stellung halten. Unmittelbar kletterte eine angenehme Wärme zu den Menschen in die Glieder. Als das Feuer nur noch ein Häufchen glühende Asche war, wurde es Tina ein wenig schwindelig. Bier habe ich nicht getrunken, denkt Tina sich leise. Im Hintergrund hörten sie die raue Stimme des Geplagten- hiphop ähnliche Tonwellen verbreiteten sich in der Dunkelheit. Von außen betrachtete, könnte sich hier ein romantisches Zusammentreffen von Gleichgesinnten veranschaulichen, eine Schlüsselszene, die allerdings noch keiner wirklich verstand. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich jeder Pläne für die nächsten Schritte ausgedacht. Das war wahrscheinlich Niemanden bewusst, aber mit neuer Einsicht und Gelassenheit, dem im Hintergrund Singenden gar nicht mehr gewahr, gingen sie geschlossen wieder ins Haus zurück. Deutlicher wurden die englischen Worte, denn er sang immer weiter den gleichen Song:

I’m not one of those rich type of people
I’m not a fortune maker
It’s the moment that counts
All I give for love
Are words to play?
Words to play!

I keep my head over water and out of the clouds
I’m not a borderline type taker
It’s the moment that counts.
All I have are hidden secret boundaries
Some hidden boundaries

Don’t need anybodies traces in my black box
I’m not an empty mind faker
It’s the moment that counts
No need for love drooping eyes
Any lovers eyes?

I’m not a fortune maker
Mam no fortunes
All I give for love
Are words to play?
Mam words to play!

I’ll keep it all easy upside-down
I’m not the wrong way around
It’s the moment that counts
I’ll give my sunshine heart
Sunshine to your heart!

I’m just waiting for that right kind of swinging
I’m painless bubbly sexy stuff
It’s the moment that counts.:II
I’ll whisper cherry blossoms in her ear
Sweetest Shivers up her spine

Der Abend war zu Ende und es gab jetzt nichts mehr im Haus zu tun. Alle verabschiedeten sich, ausgestattet mit Restwärme vom Lagerfeuer und bei Tina blieb noch etwas Schwindel zurück- Bobo blieb alleine zurück.

Zuhause angekommen sinnierte Tina, versuchte den Songtext, der kein selten vorkommendes Phänomen eines Liebenden wiedergab, in das gerade Erlebte einzuordnen. Melancholischer Frohsinn, Hand in Hand mit prekärer Situation und hieraus folgernd, nur die Liebe zählt. Volkstümlich betrachtet: „Was ist unterm Strich rausgekommen?“. Liebe ohne Geld. Tina wurde schon auf dem Weg zu ihrem Auto, das sie schon seit einigen Jahren durchgehend fuhr, deutlich, dass sich ein Keim der Wertlosigkeit in ihm verbirgt- haftengeblieben war. Aber selbst wenn er genügend Geld gehabt hätte , um den Wert seiner Liebe zu beweisen, hätte auf Grund der Konstellation; Mann liebt Frau, die Frau liebt, gar nichts zustande kommen können. So kam es höchstwahrscheinlich zu der unbedarften Fahrt auf großer See, und so hat er über Jahre hinweg alles gesammelt, um seiner Erfolglosigkeit zu entkommen. Mehr ist Meer. Die Triebkraft, ist dem Menschen Wille, folgert sie, führt unser Bewusstsein direkt zum Leiden, wenn die gesetzten Ziele nicht erreicht werden. Für jedes Bedürfnis des Wollens, stehen unersättlich unterbewusste Triebe zur Hilfe bereit, das zu bekommen, was Mensch sich erwünscht hat. Die ständige Verlockung, aber nie zur Erfüllung gebrachten Wünsche führten ihn ins MessiLeid. Tina geht davon aus, dass Bobo sich wahrscheinlich nie gelangweilt hat, aber es gab keinen Ansporn, seine große Liebe würde ihm verwehrt bleiben. Die Belohnung für seinen Mut, mit waghalsigen Unternehmungen Geld zu beschaffen, und somit seinen Wert zu bekunden, scheiterten- alles strudelte in einem Durcheinander- seine Belohnung, die ihn seine scheinbare Wertlosigkeit vergessen ließ.

In den Spiegel schauend begutachtete Tina sich sehr aufmerksam und konzentriert, während sie das alles überlegte. Sie weiß, dass sie sich keine einzige Minute der Achtlosigkeit, des Verweilens gönnen darf, solche Situationen müssen ständig im Fluss der Geschehnisse analysiert werden. Bin ich die, die sich gerade die Zähne putzt? Natürlich! Wer den sonst? Wenn sie sich manchmal schmerzlich mitgenommen fühlte, so geschah dies eines Irrtums wegen. In ihrer Person hielt Tina sich für einen Anderen, als sie ist, und hat dann dessen Unheil beklagt: Zum Beispiel für den Musiker, der keine Zuhörer hat und kaum noch atmen kann, weil sein ganzes Haus mit Instrumenten vollgestopft ist, oder für andere Menschen, die an ähnlicher Misere tüfteln. Sie weiß, dass sie dies alles nicht ist, dass alles ist fremdes Gespinst, aus dem höchstens das Kleidungsstück gewesen ist, das sie eine Weile trug und dann gegen einen anderes abgelegt hat.